Interview mit Michael Zellweger, Leiter pflegehero
1. Pflege im Alter: Welche Herausforderungen und Tendenzen gibt es in der Schweiz?
Die demografische Alterung in der Schweiz wird durch die Babyboomer-Generation und eine steigende Lebenserwartung vorangetrieben. Bis 2045 wird der Anteil der 80-jährigen und älteren Menschen voraussichtlich auf 10–11 % ansteigen. Gemäss der Studie «Gute Betreuung im Alter – Kosten und Finanzierung» der Paul-Schiller-Stiftung aus dem Jahr 2021 fehlt es über 620’000 Menschen über 65 Jahren an qualitativ hochwertiger Unterstützung, was einem Mangel von jährlich 20 Millionen Betreuungsstunden entspricht. Mit dem steigenden Bedarf an spezialisierter Pflege und Betreuung wird auch der Bedarf an qualifiziertem Personal zunehmen.
Zudem zeichnen sich qualitative Veränderungen des Alterns ab: Längere gesunde Lebensspannen und ein aktiverer Lebensstil im Alter werden häufiger. Die Lebenserwartung in guter Gesundheit steigt, was dazu führt, dass mehr Menschen im höheren Alter selbstständig bleiben können. Zudem hegen viele den Wunsch nach einem langen Verbleib im vertrauten Umfeld – der Eintritt ins Pflegeheim wird möglichst hinausgezögert.
Ein höheres Lebensalter bedeutet nicht zwangsläufig Hilfsbedürftigkeit, aber gleichwohl reduzierte Kapazitäten und eine erhöhte Verletzbarkeit. Die meisten älteren Menschen in der Schweiz leben in kleinen Haushalten, häufig allein. Neue Wohnformen wie Altershausgemeinschaften erweitern die Möglichkeiten für ältere Menschen zwar, aber sie sind nicht für die Mehrheit verfügbar. Trotz Altersvorsorge sind viele ältere Menschen zudem auf Ergänzungsleistungen zur AHV angewiesen, besonders Frauen. Die meisten haben ein soziales Netzwerk, aber einige sind sozial isoliert aufgrund von Einschränkungen oder Armut.
Nachbarschaftsbeziehungen und -hilfe gewinnen an Bedeutung, müssen aber organisiert und betreut werden. Informelle Hilfe durch Angehörige ist die häufigste Unterstützungsform für ältere Menschen, wobei eine Kombination aus informeller und professioneller Hilfe mit steigendem Bedarf häufiger wird. Eine Verlagerung von stationären zu ambulanten Pflegeangeboten findet statt, aber bei starkem Pflegebedarf sind stationäre Optionen immer noch notwendig.
Albert Wettstein, der ehemalige Chefarzt des stadtärztlichen Diensts Zürich, plädiert für eine verbesserte, teils staatlich finanzierte ambulante Altersbetreuung als Alternative zur Prognose des Obsan-Berichts, der bis 2040 einen Bedarf von 921 zusätzlichen Pflegeheimen vorhersieht. Integrierte Versorgungsmodelle lassen die Trennung zwischen ambulanter und stationärer Pflege verschwimmen; Ziel ist es, vermehrt auf eine ganzheitliche Versorgung zu setzen.
Gleichzeitig treiben gesellschaftliche und politische Entwicklungen einen veränderten Umgang mit älteren Menschen voran. So wird beispielsweise vermehrt versucht, die Ressourcen und Kompetenzen älterer Menschen zu erhalten und zu fördern. Diese Trends weisen auf die Notwendigkeit hin, die Pflege- und Betreuungsdienste für ältere Menschen anzupassen, um den individuellen Bedürfnissen gerecht werden und gleichzeitig den Herausforderungen einer alternden Bevölkerung begegnen zu können.
2. In der Schweiz gibt es eine grosse Zahl pflegender Angehöriger. Warum werden viele nicht entlöhnt?
Tatsächlich pflegen in der Schweiz etwa 300 000 Menschen ihre Angehörigen, und nur ein Bruchteil von ihnen erhält einen Lohn dafür. Die meisten pflegenden Angehörigen decken also einen Bedarf ab, für den eigentlich eine Spitex zuständig wäre. Was viele gar nicht wissen: Gemäss eines Bundesgerichtsentscheids von 2019 können Angehörige zwar nicht für Behandlungspflege, sehr wohl aber für Grundpflege von den Krankenversicherungen entschädigt werden. Wichtig ist es, zwischen Grundpflege und Betreuung zu unterscheiden – der Umfang der Grundpflege ist klar in der Krankenpflege-Leistungsverordnung definiert, und nur diese darf den Krankenversicherungen in Rechnung gestellt werden.
Betreuung ist keine Leistung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung und daher nicht entschädigungsberechtigt. Das Unwissen über solche Unterschiede sorgt möglicherweise für Verunsicherung. Ein weiterer, wichtiger Grund dafür, dass viele pflegende Angehörige nicht entlöhnt werden, hat mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung von sogenannter «Care-Arbeit» – die sowohl bezahlte als auch unbezahlte Sorge- und Pflegearbeit umfasst – zu tun: Pflegende Angehörige möchten sich nicht in den Mittelpunkt stellen, weil es seit Generationen als Selbstverständlichkeit gilt, dass man innerhalb der Familie unentgeltlich pflegt.
3. Zuhause gepflegt werden anstatt im Pflegeheim: Welches sind die Vorteile dieses Konzepts?
Das Ziel dieses Konzepts ist es letztlich, mit weniger oder späteren Eintritten ins Spital oder Pflegeheim sowie weniger Arztbesuchen die Gesundheitskosten zu senken. Und nicht zuletzt werden – als Antwort auf den herrschenden Pflegenotstand – dringend benötigte Pflegekräfte ausgebildet. Ein weiterer Vorteil ist das vertraute Umfeld: Menschen fühlen sich oft wohler und sicherer in ihrer gewohnten Umgebung. Das Konzept der Angehörigenpflege ermöglicht es, zuhause zu bleiben, umgeben von persönlichen Gegenständen, Familienfotos und einem Umfeld, das man kennt und liebt. Dadurch wird Autonomie gefördert und Umstellungen können vermieden werden.
Zudem ist eine emotionale Unterstützung durch die Familie und enge Freunde zuhause oft besser verfügbar. Der Kontakt mit vertrauten Personen kann eine grosse emotionale Stütze sein und dazu beitragen, das psychische Wohlbefinden zu verbessern. Die Pflege zu Hause kann des Weiteren auf die individuellen Bedürfnisse der Person zugeschnitten werden. Pflegedienste können an die spezifischen Anforderungen und den Tagesablauf der Person angepasst werden, was zu einer persönlicheren Betreuung führt. Die Pflege zu Hause kann flexibler sein, um sich an sich ändernde Bedürfnisse anzupassen. Und nicht zuletzt kann in einigen Fällen die Pflege zu Hause kosteneffizienter sein als die Pflege in einer Einrichtung, deren Kosten oftmals höher ausfallen.
4. Wie funktioniert das Angebot von Pflegehero?
Unternehmen, die eine Betriebsbewilligung als Spitex haben, stellen Menschen an, die ihre Angehörigen gegen Lohn pflegen. Ich arbeite als Geschäftsführer von Pflegehero mit drei Unternehmen zusammen: Spitex 24, private Care und reha at home in den Kantonen Aargau, Basel-Stadt und -Land, Bern, Luzern, Solothurn und Zürich. Die pflegenden Angehörigen werden von Fachkräften betreut und müssen innerhalb eines Jahres einen Kurs in Pflegehilfe oder eine gleichwertige Ausbildung absolvieren
5. Welches sind die Vorteile bei Pflegehero?
Mitmenschen, die ihre Angehörigen selbst pflegen, erhalten nicht nur Wertschätzung für eine nicht selbstverständliche Leistung, sondern auch einen Lohn für ihre Arbeit – dieser beträgt zurzeit 36 Franken pro Stunde. Ausserdem werden sie von ausgebildeten Pflegefachkräften gecoacht und überwacht. Das erhöht die Pflegequalität. Durch die Unterstützung der Pflegenden können die Gesundheitskosten gesenkt werden: Es gibt weniger und spätere Eintritte ins Spital oder Pflegeheim sowie weniger Arztbesuche. Und nicht zuletzt werden dringend benötigte potenzielle Pflegekräfte ausgebildet.
6. Wie können pflegende Angehörige für ihre Leistungen entlöhnt werden?
Die Entlöhnung der Pflegeleistungen erfolgt nach dem folgenden Schema:
- Bedarfsabklärung bei der pflegebedürftigen Person durch eine dipl. Pflegefachperson
- Abschluss eines Arbeitsvertrags mit Pflegehero oder mit deren operativen Einheit (reha@home, Spitex 24, private Care)
- Erfassen des Pflegeverlaufsberichtes durch die pflegende Angehörige, bzw. den pflegenden Angehörigen
- Einreichen des Pflegeverlaufsberichtes jeweils Mitte und Ende Monat
- Auszahlung des Lohnes am 6./7. des Folgemonats
- Absolvierung einer Pflegehilfeausbildung innerhalb eines Jahres seit Anstellung zur Verlängerung der Anstellung über ein Jahr hinaus
7. Welche Leistungen werden vergütet und welche nicht?
Es kann ausschliesslich die Grundpflege vergütet werden. Die allgemeine Grundpflege beinhaltet Hilfeleistungen bei Tätigkeiten, welche nicht mehr selbst ausgeführt werden können, wie zum Beispiel:
- Hilfe beim Aufstehen und Zubettgehen
- Unterstützung beim An- und Ausziehen der Kleider
- Tägliche Körperpflege
- Bewegungsübungen und Mobilisation
- Lagerung im Bett und Dekubitusprophylaxe
- Unterstützung beim Toilettengang
- Hilfe bei der Mund- und Körperpflege
- Beine einbinden, Strümpfe anziehen usw.
8. Welche Voraussetzungen gelten?
Damit die Angehörigenpflege wie beschrieben entlöhnt werden kann, müssen folgende Grundvoraussetzungen gegeben sein:
- Mindestalter des pflegenden Angehörigen, bzw. der pflegenden Angehörigen: 18 Jahre
- Physische und kognitive Fähigkeit zur Leistung von Grundpflege
- Keine arbeitsrechtlichen Konflikte
- Bereitschaft für das Ergreifen von Qualitätsmassnahmen im Pflegeprozess
- Pflegebedürftigkeit von Angehörigen
- Stabile und langfristige Pflegesituation der pflegebedürftigen Person
- Einverständnis aller Beteiligten.
9. Wie muss ich vorgehen, wenn ich Interesse an einer solchen Betreuung habe oder mich informieren möchte?
Wenn Sie Fragen rund um die Pflege von Angehörigen in der Schweiz und deren Bezahlung haben, finden Sie auf unserer Website viele hilfreiche Informationen. Gerne beraten wir Sie auch persönlich – telefonisch: 0800 247 247 oder via E-Mail: info@pflegehero.ch